
Heimatliebe im Depot – Eine Analyse von Trading.de zum Münchner Home-Bias
München gilt als einer der robustesten Wirtschaftsstandorte Europas. Mit einer Dichte an DAX-Konzernen, die in Deutschland ihresgleichen sucht, prägen Unternehmen wie Siemens, BMW, Allianz oder Munich Re nicht nur das Stadtbild, sondern auch das Selbstverständnis der Bewohner. Wer in München lebt und arbeitet, begegnet diesen Marken täglich. Diese allgegenwärtige Sichtbarkeit führt an den Kapitalmärkten zu einem Phänomen, das Finanzpsychologen als „Home-Bias“ bezeichnen. Privatanleger tendieren dazu, ihr Kapital überproportional in Unternehmen aus dem eigenen geografischen Umfeld zu investieren. Eine aktuelle Betrachtung der Experten von Trading.de zeigt jedoch, dass diese emotionale Verbundenheit oft zu Lasten der Rendite geht und unnötige Risiken birgt.
André Witzel, Gründer von Trading.de, weist darauf hin, dass lokale Nähe oft mit Informationsvorsprung verwechselt wird. Nur weil man jeden Morgen an der Konzernzentrale am Petuelring oder in der Königinstraße vorbeifährt, besitzt man keinen analytischen Vorteil gegenüber einem Fondsmanager in New York oder London. Dennoch dominiert in vielen Münchner Depots der bayerische Aktienanteil. In diesem Artikel erfahren Sie alles zum Thema und André Witzel klärt darüber auf, wie kluge Anleger sich mit Blick auf ihr Depot verhalten sollten.
Die Psychologie der scheinbaren Sicherheit
Der Drang, in das zu investieren, was man kennt, ist menschlich. In der Verhaltensökonomik wird dies als „Familiarity Heuristic“ beschrieben. Anleger fühlen sich wohler, wenn sie Geld in Geschäftsmodelle stecken, deren Produkte sie im Alltag nutzen oder deren Logos sie beim Spaziergang durch Schwabing sehen. In München verstärkt sich dieser Effekt durch die hohe Identifikation mit der Region. Die wirtschaftliche Stärke der Landeshauptstadt suggeriert Stabilität.
Dabei entsteht oft eine trügerische Sicherheit. Ein Aktionär glaubt, die Risiken einer Allianz-Aktie besser einschätzen zu können als die eines amerikanischen Tech-Giganten, schlichtweg aufgrund der physischen Nähe. Objektiv betrachtet korreliert die geographische Distanz jedoch nicht mit der Vorhersehbarkeit von Kursentwicklungen. Ein globaler Wirtschaftsabschwung trifft den Münchner Automobilbauer ebenso hart wie seine Konkurrenz in Asien oder den USA. Wer sein Portfolio rein nach Sympathie und lokaler Verfügbarkeit aufbaut, ignoriert fundamentale Regeln der Diversifikation. Das Depot wird zum Spiegelbild des eigenen Lebensumfeldes, was in guten Zeiten Geld bringt, in Krisenzeiten jedoch fatale Folgen haben kann.
Wenn der Standort wackelt: Die Gefahr doppelter Abhängigkeiten
Ein besonders kritisches Szenario ergibt sich, wenn Anleger nicht nur in Münchner Werte investieren, sondern auch bei diesen Unternehmen beschäftigt sind. Dies ist in der bayerischen Landeshauptstadt keine Seltenheit. Mitarbeiteraktienprogramme sind beliebt und steuerlich oft gefördert. Doch strukturell entsteht hierdurch ein massives Klumpenrisiko.
Gerät der Arbeitgeber oder dessen spezifische Branche in Schieflage, drohen Verluste auf zwei Ebenen gleichzeitig: Das investierte Vermögen schrumpft durch fallende Kurse, während gleichzeitig der Arbeitsplatz unsicher wird oder Bonuszahlungen ausfallen. Das sogenannte Humankapital (die eigene Arbeitskraft) und das Finanzkapital sind dann in denselben Risikotopf geworfen. Eine Diversifikation über Länder- und Branchengrenzen hinweg dient daher nicht nur der Renditeoptimierung, sondern ist elementarer Selbstschutz.
Experteneinschätzung von André Witzel: „Der Markt kennt keine Postleitzahl“
Die Beobachtungen aus der Praxis stützen die theoretischen Warnungen. André Witzel von Trading.de sieht bei Depotanalysen immer wieder dasselbe Muster: „Wir erleben oft, dass Anleger versuchen, ihr Portfolio mit Emotionen zu managen. Sie kaufen BMW, weil sie das Auto mögen. Sie kaufen Siemens, weil der Nachbar dort Ingenieur ist. Das ist sympathisch, aber an der Börse gefährlich.“
Witzel betont, dass professioneller Handel eine strikte Trennung von emotionaler Bindung und rationaler Kapitalallokation erfordert. „Der Markt kennt keine Postleitzahl. Eine Aktie steigt nicht, weil das Unternehmen in einer schönen Stadt sitzt, sondern weil die globalen Cashflows stimmen. Wer glaubt, durch lokale Treue den Markt schlagen zu können, zahlt meistens drauf“, so der Experte weiter.
Diese Nüchternheit fehlt vielen Privatanlegern. Witzel berichtet von Fällen, in denen Trader Verluste bei heimischen Aktien viel zu lange aussitzen, weil sie hoffen, dass sich das Traditionsunternehmen „schon wieder fängt“. Bei einer unbekannten Firma aus Übersee wäre die Reißleine längst gezogen worden. Diese emotionale Verzerrung kostet am Ende bares Geld.
Zeitzonen und Handelszeiten richtig nutzen
Ein weiterer Aspekt, der gegen eine reine Fokussierung auf deutsche oder Münchner Werte spricht, ist die globale Natur des Handels. Wer sich nur auf den Xetra-Handel oder die Börse München konzentriert, verpasst wichtige Marktbewegungen. Große Impulse kommen oft aus den USA oder Asien, wenn die Lichter in der Maximilianstraße längst aus sind. Professionelle Akteure beobachten daher Märkte rund um die Uhr. Selbst wenn der Parketthandel ruht, bilden sich Preise im Hintergrund weiter.
Besonders deutlich wird dies zwischen Freitagabend und Montagmorgen. Nachrichten, politische Entscheidungen oder Katastrophen halten sich nicht an Öffnungszeiten. Wer verstehen will, wie sich das eigene Portfolio zum Wochenstart verhält, muss den DAX am Wochenende im Blick behalten. Hier zeichnen sich Trends ab, die den Eröffnungskurs am Montagmorgen maßgeblich bestimmen. Eine rein lokale Brille blendet diese globalen Zusammenhänge aus.
Strategische Neuausrichtung für Münchner Depots
Die Lösung liegt nicht darin, Münchner Aktien komplett zu meiden. Unternehmen wie die Münchener Rück oder Infineon sind Weltmarktführer in ihren Segmenten und können legitimer Bestandteil eines Portfolios sein. Der Fehler liegt in der Übergewichtung. Ein gesundes Depot benötigt ein Gegengewicht zur eigenen Lebensrealität.
Wer in der Automobilbranche arbeitet, sollte sein Kapital tendenziell eher in Sektoren wie Gesundheitswesen oder Basiskonsumgüter investieren, idealerweise außerhalb des Euro-Raums. Wer im Immobiliensektor tätig ist, benötigt liquide Assets, die nicht mit dem Zinsniveau korrelieren. Die Strategie muss lauten: Je stärker die eigene wirtschaftliche Existenz von der lokalen Wirtschaft abhängt, desto internationaler muss das Investment sein.
Objektivität ist hierbei der wichtigste Ratgeber. Man muss lernen, Aktien als abstrakte Vehikel zur Vermögensbildung zu sehen, losgelöst von der Leuchtreklame, die man vom Bürofenster aus sieht. André Witzel fasst es pragmatisch zusammen: „Die beste Aktie für Ihr Depot ist oft die, von der Sie noch nie gehört haben, deren Zahlen aber stimmen – und nicht die, deren Kantine Sie kennen.“ Eine rationale Distanz zur eigenen Heimatstadt ist an der Börse somit kein Verrat, sondern ein Zeichen finanzieller Intelligenz.
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