„Städte… Unter den Füßen… Über dem Kopf…“
Waldemar Kern, ein deutscher Künstler aus Russland, stellt im Haus des Deutschen Ostens aus
Städte – das sind nicht nur Straßen und Plätze, Betriebe und Verwaltungsgebäude, Universitäten und Museen. Im Ausstellungsprojekt „Städte… Unter den Füßen… Über dem Kopf…“, das vom 19. Juni bis 29. Juli 2020 im Haus des Deutschen Ostens präsentiert wird, begibt sich Waldemar Kern in Deutschland und Russland auf Spurensuche. Nach Dingen, über die wir im urbanen Alltag hinweggehen, ohne sie wahrzunehmen. Dabei entwickelt er seine eigene Wahrnehmungsperspektive, aus der sich ihm die Stadt „unter den Füßen“ und „über dem Kopf“ erschließt: Er fotografiert Kanalabdeckungen und Baumkronen.
In München und Berlin, Moskau und Köln entdeckt Kerns Kamera Zeichen am Boden. Es handelt sich um Kanalabdeckungen, oft schief in den Gehweg eingebaut, manchmal historisch, vereinzelt mit dem Stadtwappen und Jubiläumsdaten versehen, gelegentlich sogar mit Werbung für Firmen, Hotels und Restaurants.
Mit der Geschichte von Hygiene und Kommunikation im städtischen Raum untrennbar verbunden, gehen die ersten Kanalabdeckungen auf das 18. Jahrhundert zurück, als in Europa die ersten Kanalisationssysteme in Betrieb genommen wurden. Die meist aus Metall gegossenen und rundförmigen Deckel sind nicht nur mit typischen und sofort wiedererkennbaren Schriftsignaturen versehen, die auf ihre Eigentümer und Hersteller sowie auf ihre Zweckbestimmung hinweisen, sondern auch mit besonderen Zierelementen, die entweder ihre Zuordnung zu einer Institution oder einem Betrieb gestatten oder ein selbstständiges Designelement darstellen. Im Auftrag verschiedener Einrichtungen und Firmen entstanden, schützen sie bis heute die städtischen Kanalisation-, Wasser-, Wärme- und Telefonleitungen vor dem Zugriff von Unbefugten. Inzwischen sind die Kanalabdeckungen auch zu Informations- und Reklameträgern sowie zu Orientierungshilfen für Touristen geworden, wie zum Beispiel in Moskau, wo sie den Stadtfremden auf die nächste U-Bahnstation hinweisen.
Die Kanalabdeckungen markieren die Grenze zwischen oben und unten, führen zu einer „anderen“ Welt der Stadt. Über tausende Kilometer erstreckt sich unter ihnen der unterirdische Teil des Stadtraums mit der bizarren Geometrie seiner Leitungs- und Kommunikationswege. Geheimnisvoll und dem alltäglichen Blick des Städters verborgen, wird er zum Gegenstand von Alltagsmythen, Gerüchten und Geschichten von Kunst, Literatur und Film. Die Kanaldeckel verbergen auch Spuren von Verbrechen: in der unterirdischen Welt wurden wiederholt Leichenfunde gemacht.
Eine urbane Gesellschaft entdeckt in den Kanaldeckeln ihre Geschichte wieder. Das Chinarestaurant „Fung-Wah“ am Münchner Prinzregentenplatz existiert schon lange nicht mehr. In Russland hat so manche Kanalabdeckung die Wirren der Revolution und der Sowjetzeit überlebt. Waldemar Kern fotografiert sie: Einen Deckel mit der Abschrift „Chinarestaurant ‚Fung-Wah‘“ oder einen weiteren mit den vier Buchstaben „SSSR“ (im Deutschen „UdSSR“), dem Namen des einstigen sozialistischen Großreiches. Durch die Kanalabdeckungen wird die „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ möglich. Elemente der städtischen Infrastruktur, Teil der Zivilisation und Kultur einer Megapolis, sind sie zugleich visuelle und textuelle Speicherorte des historischen Gedächtnisses einer Stadt, unauffällige Zeugnisse ihrer Vergangenheit und Gegenwart, die ihren Geist und ihre Geschichte hüten. Die Geschichte ihrer Eigentümer und Hersteller erzählen die Kanaldeckel über deren Ableben hinaus und machen somit die Vergangenheit in der Gegenwart einer Stadt sichtbar.
Waldemar Kerns Fotoaufnahmen zeigen dabei, dass sich die Kunstgeschichte der letzten zwei Jahrhunderte, die europäische Avantgarde mit ihrem Konstruktivismus wie die postsowjetische Pop-Art, in Stil und Ästhetik der Kanalabdeckungen spiegeln. Gleichzeitig hat sich die Funktion der Kanalabdeckungen grundsätzlich gewandelt: sie wurden zu einem Artefakt. Experimentelle Künstler haben die Kanalabdeckung längst in den Gegenstand einer Performance und darüber hinaus in ein selbstständiges Element des städtischen Designs verwandelt. Künstler als Urbanisten greifen in die Gegenständlichkeit des Stadtalltags ein, indem sie die Kanalabdeckungen kreativ umgestalten. Einst utilitaristische Gegenstände werden sie nun gleichermaßen zur touristischen Attraktion, zu Kultobjekten von musealem Sammlerwert und zu historischen Dokumenten.
Zu diesem Blick des Künstlers „nach unten“ gesellt sich sein kontrastierender Blick „nach oben“, über die Köpfe der Menschen hinweg. Er ist in Waldemar Kerns Fotoserie „Weiß auf Schwarz“ festgehalten. Ihr Thema ist die Natur in den Städten – visuell verfremdete Baumkronen und Äste, die, gebrochen, gebogen und verwoben, sich zu einem Phantasiegebilde formen, sich als „Muskeln der Stadt“ gerieren.
Waldemar Kern (geb. 1952 in Nischni Tagil/Russland) studierte an der Kunst- und Graphikfakultät der Kunsthochschule seiner Heimatsstadt sowie an der Akademie der bildenden Künste in Moskau. Es folgten Einzelausstellungen u.a. in Moskau, Berlin und München. Waldemar Kern lebt und arbeitet in Köln.
Dauer der Ausstellung: 19. Juni bis 29. Juli 2020
Öffnungszeiten: 19. Juni bis 30. Juni 2020: Montag bis Freitag (werktags) 10.00 Uhr bis 18.30 Uhr;
1. Juli bis 29. Juli: Montag bis Freitag (werktags) 10.00 Uhr bis 20.00 Uhr. Wegen der aktuellen Verbreitung des Corona-Virus SARS-Cov-2 gelten Sonderbedingungen für den Ausstellungsbesuch in unserem Hause.
Begleitprogramm: Online-Angebote im Rahmen des Begleitprogramms der Ausstellung
Ort: Haus des Deutschen Ostens, Am Lilienberg 5, 81669 München
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